Neue Musikzeitung
Ausgabe März 2018

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Musik ist ihrem Wesen nach nichts, was in eine strenge und traditionelle Form gegossen werden darf

Erstmals in deutscher Übersetzung „Claude Debussy, Briefe an seine Verleger“ von Prof. Bernd Goetzke

Hannover: Bernd Goetzke, Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und Leiter des Studienganges Soloklassen, war viele Jahre Direktor des von ihm konzipierten Instituts zur Früh-Förderung musikalisch Hochbegabter (IFF). Er hat soeben im Georg OLMS-Verlag Hildesheim - Zürich - New York ein Buch mit ca. 500 Briefen von Claude Debussy publiziert, die er in mehrjähriger Arbeit neben seiner Hochschul- und weltweiten Meisterkurstätigkeit übersetzt hat.

neue musikzeitung:
Herr Prof. Goetzke, im Zuge Ihrer Arbeit an der Übersetzung haben Sie sicher Claude Debussy sozusagen „persönlich“ kennengelernt, da die Briefe ja offensichtlich alle Lebensbereiche des Komponisten berühren. Wie dürfen wir uns z.B. Debussy als Persönlichkeit, als Mensch vorstellen?

Bernd Goetzke:
Da beginne ich doch gleich einmal mit einem Zitat: „Ich bin einfach wie ein Grashalm.“ In einer Hinsicht kann man das verstehen: Sein innerer Kompass war im Grunde nur auf den Leitstern des Komponierens ausgerichtet. Aber dann gab es ja da auch noch die Zwänge des Alltags, die ihn regelmäßig in heftige Konflikte stürzten, so dass er für seine Umgebung alles andere als einfach war. Debussy hatte von Kindheit an in allen Dingen „seinen eigenen Kopf“ und wurde zu einem Nonkonformisten par excellence. Er war ein zärtlicher Vater, ein schwieriger Ehemann (zwei Frauen, die er verließ, versuchten, sich daraufhin das Leben zu nehmen), ein brillanter Denker, ein Florettfechter des Wortes. Ironischerweise sind es die Widersprüchlichkeiten, die sich als eine der wenigen Konstanten durch sein Leben ziehen: Nie war er in einer Schule gewesen, und im Conservatoire nahm er auch nur so wenig wie möglich von seinen Professoren an, aber er war enorm belesen und gebildet, was ihn nicht vor vielen kleinen Fehlern in Grammatik und Rechtschreibung bewahrte. Er erhielt den wichtigsten Preis, den ein Kompositionsstudent bekommen konnte, den Rompreis, aber das brachte ihn fast zur Verzweiflung, denn er wollte nicht nach Rom. Er war ein Mann der Hauptstadt, aber er liebte das Land und das Meer. Die Abwesenheit von der Familie konnte er kaum ertragen, wenn er auf Reisen war, aber zu Hause hielt er es dann mit der Familie auch nicht gut aus. Er hat wachsenden internationalen Ruhm erlebt, aber er stand in zunehmendem Maße am Abgrund. Seine letzten Lebensjahre waren überschattet von Krankheit, Armut und dem Krieg.

nmz:
Debussy hat in einer sehr bewegten Zeit gelebt. Inwieweit hat die politische Situation, etwa die Entwicklung, die zum ersten Weltkrieg führte, wie auch sein problematisches Verhältnis zu Deutschland auf sein Leben und sein Schaffen Einfluss genommen?

Bernd Goetzke:
Auch wenn er die deutsch-französische Erbfeindschaft sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen hat und viele ihn später als Chauvinisten abstempeln wollten: Hier muss man sehr vorsichtig in der Bewertung sein. Die Lektüre der Briefe lehrt uns, wie differenziert er immer zu denken bereit war. Das Paris der Jahrhundertwende war eine viel zu internationale, vibrierende Metropole, als dass Debussys persönlicher Selbstfindungsprozess (weg von Wagner, hin zum „musicien français“) etwa als logische Folge der deutsch-französischen Spannungen gesehen werden darf. 1914 flammten natürlich alte Ressentiments heftig auf, die eine Weile geschlummert hatten. Künstlerisch hat Debussy im Grunde alles aus sich selbst, aus seinem sich konkretisierenden Credo heraus entwickelt. Aber dabei hat ihm geholfen, sich zumindest gegen eine Lichtgestalt wie Wagner positionieren zu können, über den er ja tatsächlich nach anfänglicher Verehrung einige sehr bissige Sachen gesagt hat, was er interessanterweise später, nachdem er sich selbst gefunden hatte, wieder relativierte. Und typisch Debussy: 1914 entschied er sich bewusst, keine „Marche hero?que“ zu schreiben, wie Saint-Saëns 1871, sondern eine „Berceuse hero?que“ – was für ein Titel! – und nicht etwa mit Widmung für den französischen Präsidenten und sein Volk, sondern für König Albert I. von Belgien und seine Soldaten. Aber wie dieser Mann, aus einfachsten Verhältnissen kommend, weitgehend autodidaktisch ausgebildet, es geschafft hat, der Musikwelt in einem entscheidenden Moment neue Impulse zu geben, und nicht nur für sich selbst oder für Frankreich: Davor müssen wir uns verneigen.

nmz:
Debussy galt als sehr kritischer Geist. Zeitweilig hat er ja auch als Kritiker gearbeitet. Was erfahren wir in den Briefen über seine Sicht auf andere Komponisten?

Bernd Goetzke:
Zunächst waren seine Lieblingskomponisten Bach, Palestrina und Wagner, bis dieser in den „Schatten“ rückte. Eine nicht zu steigernde Verehrung hatte Debussy für Bach und Mozart. Auch Chopin, als dessen Enkelschüler er sich sah, liebte er. Da war großer Respekt für Beethoven, auch Richard Strauss, er schätzte Grieg und staunte über Strawinsky, mit dem er engen Kontakt hatte. Aber auf der Suche nach seinen, den französischen Wurzeln erkor er sich Rameau und Couperin als Vorbilder. Mit Gluck ging er am strengsten ins Gericht, weil dieser verantwortlich gewesen sei für die Verdrängung der großen Franzosen seiner Zeit, wofür sein Verleger, Jacques Durand, sicherlich beeinflusst von Debussy, allerdings Marie-Antoinette die Schuld gab, als er sich diesbezüglich um eine musikhistorische Analyse bemühte.

nmz:
Debussy hat eine Reihe von Aufnahmen eigener Klavierstücke hinterlassen. Was können wir davon lernen?

Bernd Goetzke:
Das war 1913, und er machte diese Aufnahmen von 14 kleineren Stücken, darunter einige Préludes und Children’s Corner, für mechanisches Klavier (Welte-Mignon). Darüber wird auch demnächst ein Buch herauskommen, für das ich ein Kapitel „Aus praktischer Sicht“ geschrieben habe. Sein Spiel ist immer inspirierend, den „Geist“ der Musik erfasst man durch seine Interpretation – über Zeit, Raum und diese besondere Mechanik hinweg. Einiges ist gelungen, klingt fast „modern“. Mir ist klar geworden, wie wichtig man seine Spielanweisungen nehmen sollte: „nerveux et avec humour“, „capricieux et léger“ etc., das ist wichtiger als Metronomangaben. Dass „doux et fluide“ zum „doppio movimento“ wird (in der Cathédrale engloutie), war eine Überraschung, ist aber absolut nachvollziehbar. Allerdings ist die Genauigkeit der Wiedergabe in Bezug auf die Grundtempi nicht gesichert, und einige der Aufnahmen erscheinen mir als nachträglich recht stark manipuliert. Man darf im Übrigen dabei nicht vergessen, dass Debussy alles andere im Sinn hatte, als uns eine modellhafte Interpretation für die Ewigkeit zu hinterlassen. Er wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, wenn er geahnt hätte, dass wir 100 Jahre später jeden Ton auf die Goldwaage legen. Er hat bestimmt nicht geübt dafür, hatte keine Korrekturmöglichkeiten, wollte die Sache offenbar ohnehin geheim halten, und die Bühne machte ihm auch Angst. Jedes Stück hat aber einen Reiz, spricht erstaunlich unmittelbar zu uns, auch wenn er mit manchen vielleicht nicht so zufrieden gewesen wäre.

nmz:
Haben Sie ein Lieblingszitat aus den Briefen?

Bernd Goetzke:
Viele… Aber ich nenne einmal dieses: „Im Übrigen bin ich mehr und mehr überzeugt, dass Musik ihrem Wesen nach nichts ist, was in eine strenge und traditionelle Form gegossen werden darf. Sie besteht aus Farben und rhythmisierter Zeit… Alles andere ist ein Schabernack, erfunden von kalten Dummköpfen auf dem Rücken der Meister, die doch vorwiegend nur Musik ihrer Epoche gemacht haben! Allein Bach hat die Wahrheit geahnt.“

◾ Das Gespräch führte Gunter Sokolowsky

Erstmals in deutscher Übersetzung: Claude Debussy, Briefe an seine Verleger, Aus dem Französischen übersetzt und annotiert von Bernd Goetzke. Mit einem Geleitwort von Denis Herlin/Paris. OLMS-Verlag 2018. 475 Seiten, Reihe: Musikwissenschaftliche Publikationen. ISBN: 978-3-487-08597-5. Preis: 38,00 Euro
Inhalt: 451 Briefe von Claude Debussy an seine Verleger (Jacques Durand, Georges Hartmann u.a.) 1892 – 1917. Zahlreiche weitere Briefe aus privater Korrespondenz in den Kommentaren. Im Anhang große Auszüge aus Jacques Durands Erinnerungen Quelques souvenirs d’un Éditeur de musique Durand 1924/25, soweit sie Debussy betreffen.

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